Hunger ist zunächst der absolute Mangel an Kalorien. Damit Ernährung gesund ist, muss sie jedoch nicht nur genug Energie enthalten, sondern auch eine ausgewogene Mischung an Eiweiß, Kohlehydraten und Fett sowie eine Vielzahl lebenswichtiger Vitamine. Weltweit leiden rund zwei Milliarden Menschen unter einem Mangel an einem, häufiger sogar mehreren Mikronährstoffen – mit teilweise fatalen Folgen. Kurzfristige Notmaßnahmen wie die Verteilung von Vitamin A an Schwangere und Kleinkinder können in akuten Fällen Leben retten und Symptome lindern. Auch der Zusatz von Mikronährstoffen in Lebensmitteln kann helfen. Der Schlüssel zu einer ausgewogenen und gesunden Ernährung ist jedoch der Anbau und Genuss einer Vielfalt von Pflanzen und anderen Produkten mit ihren unterschiedlichen Inhaltsstoffen sowie eine Nahrungsmittel–verarbeitung, die deren Qualität erhält. Dies gilt für die Selbstversorgung in ländlichen Regionen ebenso wie für hoch verarbeitete Lebensmittel im Supermarkt.
Quelle Foto: pixabay, CC0
Fehlernährung und krankhafte Überernährung
Weltweit waren 2016 gut 1,9 Milliarden Erwachsene übergewichtig, davon 650 Millionen krankhaft fettleibig (adipös). Diese „globale Epidemie” - so die WHO - breitete sich rasant aus, zunehmend auch in armen Ländern. Zu energiereiche Ernährung bei mangelnder Bewegung ist die Ursache. Der weltweite Anteil der fettleibigen Erwachsenen hat sich zwischen 1975 und 2016 verdreifacht. Übergewicht gilt mittlerweile als wichtigste Ursache für Diabetes, Bluthochdruck, Schlaganfälle und bestimmte Krebsarten. Unter-, Über- und Fehlernährung zusammen sind für die meisten nicht ansteckenden Krankheiten und gesundheitlichen Beeinträchtigungen verantwortlich. Sie treffen in unterschiedlichem Maße heute gut die Hälfte der Weltbevölkerung und haben eine wesent- liche gemeinsame Ursache: Die Entkoppelung, Trennung und Entfremdung von Lebensmittel- erzeugung und ‑verbrauch.
Der Weltagrarbericht fordert, diese Zusammenhänge auf allen Ebenen wiederherzustellen. Die feinen Küchen dieser Welt können uns hierbei den Weg weisen: Viele pflanzliche und wenige, aber dafür gute tierische Produkte sowie eine maximale Vielfalt sind das Geheimnis toskanischer, chinesischer, indischer, französischer wie orientalischer Spitzenköche, die sich alle auf die reiche Tradition der einfachen Küche ihrer Region berufen. Auch die Politik könnte handeln, wie der Weltagrarbericht betont.
Gesetze gegen Lebensmittel- und Trinkwasservergiftung gehören zu den ältesten der Welt. Der Weltagrarbericht sieht neue und alte Bedrohungen der Lebensmittelsicherheit in Entwicklungs- wie Industrieländern auf dem Vormarsch. Mikrobiologische Verunreinigungen durch Bakterien (z.B. E. coli, Staphylokokken oder Salmonellen), Pilze, Viren und Parasiten mit meist akuten Symptomen stehen dabei an erster Stelle. Lebensmittelskandale sind nur die Spitze des Eisberges.
Vergiftungen und Belastungen durch Pestizide, Schwermetalle und andere Rückstände wie Dioxine, PCBs oder künstliche Hormone bleiben wegen ihrer langfristigeren Wirkung zunächst oft unbemerkt. Treten später chronische Symptome auf, sind die exakten Ursachen im Einzelfall oft schwer belegbar. Dies gilt auch für die Auswirkungen und das Zusammenwirken der Vielzahl neuer chemischer Lebensmittelzusatzstoffe, denen Verbraucher heute ausgesetzt sind. Neue Krankheitssyndrome wie Allergien, Hyperaktivität und bestimmte Krebsarten sind auf dem Vormarsch.
Eine zweischneidige Reaktion auf die wachsenden Gesundheitsgefahren des globalisierten Ernährungssystems sind immer teurere und aufwändigere technische Sicherheitsstandards. Komplexe Rückverfolgungs- und Kennzeichnungs- systeme vom Acker bis zum Teller, die von den Industrieländern und internationalen Konzernen in den Leitlinien des Codex Alimentarius von WHO und FAO und in den sanitären und phytosanitären Standards (SPS) der Welthandelsorganisation (WTO) festgelegt werden, überfordern kleine Produzenten und verstärken so die Marktkonzentration. In Industriestaaten strangulieren sie die traditionelle Lebensmittelherstellung und damit auch die Qualität. In sogenannten Entwicklungsländern, die die Kosten solcher Hygiene-, Test- und Überwachungssysteme nicht aufbringen können, gelten sie häufig nur für Exportgüter, während einfache und effektive lokale Sicherheitsmaßnahmen unterbleiben.
Gefährliches Gewerbe
Die Landwirtschaft gehört neben dem Bergbau und Baugewerbe zu den gefährlichsten Berufsfeldern der Welt. Von den vielen Millionen Arbeitsunfällen pro Jahr enden mindestens 170.000 tödlich. Hauptursache sind Unfälle mit Maschinen und Vergiftungen mit Pestiziden oder anderen Agrarchemikalien, aber auch physische Überbelastung, Lärm, Staub, Allergien und von Tieren übertragene Krankheiten. Die Internationale Arbeitsorganisation schätzt, dass 59% der weltweiten Kinderarbeit in der Landwirtschaft stattfindet. Betroffen sind mindestens 98 Millionen Kinder. Die Dunkelziffer ist hier besonders hoch.
Alte und neue Seuchen
Zu den bedrohlichsten Gesundheitsrisiken in der Landwirtschaft gehören ansteckende Krankheiten, die zwischen Tieren und Menschen übertragen und von bestimmten Anbaumethoden begünstigt werden. Bewässerungsmethoden spielen z.B. eine wichtige Rolle bei der Ausbreitung von Malaria und anderen von Insekten übertragenen Krankheiten. Die meisten Opfer dieser Seuchen sind Frauen und Kinder auf dem Lande, denen Vorsorge und Behandlung fehlen. Die private, aber auch öffentliche Forschung konzentriert sich häufig auf jene Krankheiten, die auch die zahlungskräftigere Bevölkerung der Städte und Industriestaaten betreffen.
Der Antibiotikaeinsatz in der intensiven Tierhaltung ist zu einer ernsten Bedrohung für die menschliche Gesundheit geworden. 1.619 Tonnen Antibiotika, doppelt so viel wie in der Humanmedizin, wurden 2012 in Deutschlands Mastanlagen eingesetzt. Immer mehr Krankheitserreger werden so gegen Antibiotika resistent. Arbeiter aus Tiermastanlagen gelten daher in Krankenhäusern als gefährliche Risikogruppe.
Der Weltagrarbericht zeigt: Landwirtschaft und Ernährung sind die wichtigste Grundlage menschlicher Gesundheit und zugleich die häufigste Krankheitsursache in reichen wie armen Ländern. Gesunde und nachhaltige Ernährung, Lebensmittelproduktion und Landwirtschaft können Leiden und vorzeitigen Tod von Milliarden Menschen verhindern. Sie sind wesentliche Grundlagen soliden wirtschaftlichen Aufschwungs in Entwicklungsländern und das beste Rezept gegen ausufernde Gesundheitskosten in Industrieländern. Dass nachhaltige und gesunde Ernährung nur erreicht wird, wo Bedarf (Nachfrage) und Produktion gemeinsam statt getrennt entwickelt werden, gehört zu den Botschaften des Weltagrarberichts, die wissenschaftlich nicht mehr strittig sind. In der Praxis stehen ihrer Umsetzung freilich mächtige Wirtschaftsinteressen entgegen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen